Von Treue und Verrat (Zwischentitel)

Es scheint, dass nach dem »Gesamtkunstwerk« auch die »Werktreue« als deutsches Lehnwort Eingang findet in die Sprachen der Welt. Was macht diesen Begriff so umstritten, aber auch so fragwürdig? Kein Zweifel, jeder Reflexion über die Treue oder Untreue zum »Werk« muss die Klärung dieses Begriffs vorangehen: Ist eine Partitur oder ein Klavierauszug bereits das »Werk«, oder erfüllt sich der Werkbegriff am Beispiel der Oper erst in der musizierten und inszenierten Aufführung? Greift am Ende auch diese Definition zu kurz, weil sie den Rezipienten ausklammert? Ist das »Werk« erst die individuell erlebte Aufführung? Vergeht es am Ende jeder Vorstellung, besteht es bloß als Erinnerung? Von der Beantwortung aller dieser und vieler weiterer Fragen hängt es ab, ob beispielsweise ein Regisseur lediglich als der Erfüllungsgehilfe des Komponisten anzusehen ist oder als sein schöpferischer Partner, als Autor eigenen Rechts. Der vorliegende Band setzt sich das Ziel, diesen Fragenkomplex aus möglichst vielen Blickwinkeln zu beleuchten.

Um beim Musiktheater zu bleiben, dem Schauplatz der heftigsten Schlachten um Treue und Verrat: Es geht auch um eine neue und kritische Bewertung aller Schichten des Gesamtkunstwerks Oper. Wie sakrosankt sind Notentexte? Ist dem Interpreten jene Freiheit verwehrt, die Bach durch das kompositorische Verfahren der Parodie oder Rossini durch seine Mehrfachnutzung eigener Fragmente selbstverständlich zu Gebote stand? Wird schon untreu, wer kürzt oder umstellt, interpoliert oder transponiert? Wie steht es um die seit Claudio Monteverdi umstrittene Wort-Ton-Beziehung: Ist die »Oratione«, der Textvortrag, nun »Padrona« oder »Serva« des musikalischen Satzes? Prima la musica, poi le parole? Die Frage ist im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich beantwortet worden. Wie werktreu können Uebersetzungen sein? Gehören Uebertitel zum »Werk«? Wie wichtig sind die Regiebemerkungen des Komponisten?

»Werktreue« am Beispiel der Oper

Es ist eine ganze Reihe fundamentaler Fragen, die den ästhetischen Diskurs über die »Werktreue« am Beispiel der Oper bestimmen müsste. Umso erstaunlicher, dass es in dieser Auseinandersetzung kaum einmal um musikalische Fragen geht, sondern fast ausschließlich um szenische, also das vielgeschmähte, durch einen weiteren unsinnigen Begriff denunzierte »Regietheater«. Sind die Texte Monteverdis nicht besonders schöne Beispiele dafür, dass auch die Partitur, wie scheinbar vollendet oder unvollendet sie auch sein mag, für den Interpreten nichts weiter ist als eine Spielvorlage? Viele Musiker haben diese Texte aus dem Geist ihrer Epoche jeweils neu interpretiert, also auch frei ergänzt und weiterkomponiert, von Malipiero und Dallapiccola bis zu Hindemith und Harnoncourt, aber keiner von ihnen ist jemals so angefeindet worden wie ein Regisseur, der Vergleichbares unternimmt. Wie grosszügig werden manchem Dirigenten Freiräume zugestanden, die man dem Regisseur versagt, und wie rasch kann Grossmut gleich wieder umkippen in Misstrauen, wenn das Resultat nicht übereinstimmt mit den landläufigen Vorstellungen! Man denke etwa an den Versuch von René Leibowitz, sich in Beethovens Symphonien an die Metronomisierungen des Komponisten zu halten, also geradezu besipielhaft texttreu zu sein. Seine verdienstvolle Bemühung ist sehr skeptisch beurteilt worden, während man auch recht mutwilligen Abweichungen berühmter Kollegen Beifall zollte.

Die schöpferische Rolle des Autors, sei er nun Komponist oder Dramatiker, steht ausser Frage, aber der Regisseur, wird er durch seine Interpretation nun gleichfalls zum Autor, weil jeder Text erst durch seine theatralische Imagination zum Bühnenwerk werden kann? Auch die Jurisprudenz gibt uns keine befriedigende Antwort. Der theatralischen Wirklichkeit stets hinterher, belässt sie die Situation im Ungefähren. Sie gesteht ihm zwar keine Urheberrechte zu, sondern lediglich Interpretenrechte, aber seine Leistung ist stark geschützt. Womit es sich in der Praxis leben lässt, aber das ganze Dilemma wird offenbar, wenn dieser Regisseur sich in ein- und derselben Oper zusätzlich als Choreograph ausweisen sollte, weil es ihn reizt, mit den Darstellern auch die Ballettmusik zu gestalten. Flugs wird er für diese choreographische Wegstrecke zum Autor und Urheber eigenen Rechts, um gleich bei der nächsten Vokalise wieder zurückzufallen in die Rolle des Interpreten.

Die »vollendete« Werkgestalt

Wie widersprüchlich der Weg zum Werk auch gewürdigt sein mag, er führt uns hinweg über mehrere Stufen. Erst durch die Interpretation aus dem Hier und Heute, der musikalischen wie der szenischen, gelangen wir zu einer allabendlich aufs Neue »vollendeten« Werkgestalt. Nicht in der Bewahrung und Wiederholung des Immergleichen liegt die Lebendigkeit des Kunstwerks, sondern in ihrem Zwang zur stetigen Erneuerung. Wobei wir gewahr sein sollten, dass es bei der »Werktreue« nicht nur um den »Kosmos« Oper geht, sondern um alle alten Texte. In der amerikanischen Rechtsphilosophie wird als »Originalist« bezeichnet, wer den einzelnen Verfassungsartikel so auslegt, wie er zum Zeitpunkt seiner Annahme gemeint gewesen sein mochte. Dagegen steht, wer diese »originalen« Wertmaßstäbe nicht als fix ansieht, sondern als wandelbar, sie also immer neu und zeitgemäß zu interpretieren sucht. Nicht anders ergeht es den Exegeten aller Religionen, die alte Texte aus dem Hier und Heute zu lesen und zu deuten suchen, und seien sie in Stein gemeißelt.

Die Texttreue ist ein fundamentaler Aspekt der Werktreue, aber noch wichtiger erscheint die Frage nach der Werkidee. Worin liegt sie, und wie transferiert ein verantwortungsvoller Interpret diese Werkidee aus der Entstehungszeit ins Heute? Welche Werkschichten sind von hoher, welche von vergleichsweise geringerer Bedeutung, und was gehört überhaupt nur zu jenen Ablagerungen der Rezeptionsgeschichte, die von manchen Gralshütern als »Traditionen« heilig gesprochen werden, während sie für andere Leser oder Hörer nichts weiter sind als die Schmutzschichten eines verwahrlosten Ölbilds?

Das Leitthema dieses Buchs sind die Fragen der Interpretation. Was sind deren Voraussetzungen, was führt zur großen und gültigen Werkdeutung oder: Werkvollendung? Zum einen ist es die Absage an jede Verbindlichkeit, an den goldenen Mittelweg, zum anderen der Mut zu einer Konsequenz, die auch Radikalität bedeuten kann. Kunst ist niemals Kompromiss. Kunst ist Grenzannäherung, Grenzgang, auch Grenzüberschreitung. Weit davor siedelt das Kunstgewerbe, das gut Gemachte, Gekonnte. Für Arnold Schönberg ist nicht das Können unabdingbar, sondern das Müssen, aber auch Walter Felsenstein fordert von uns ein Äusserstes an forschender Neugier: »Jedes Werk, das wir aufführen, wird in den Zustand völliger Unbekanntheit zurückversetzt.«

Werkstätten der Kunst

Walter Felsenstein: Ein Diskurs über die »Werktreue« oder das »Musiktheater« ist kaum denkbar ohne ihn. Seine Gründung, die Komische Oper Berlin, ist zugleich eine unausgesetzte Mahnung, die herkömmlichen Institutionen nicht als die Museen oder gar Weihestätten der Musikgeschichte zu begreifen, sondern als Werkstätten, in denen analysiert und phantasiert, aber auch geknetet und gehämmert wird. Sie diene als ein Exempel, weil alle öffentlich geförderten Häuser künftighin nicht nur gewärtig sein müssen, mit den gegebenen Mitteln sorgfältig zu wirtschaften, sondern ihre Existenz auch immer wieder neu zu legitimieren, und zwar inhaltlich, nicht durch Verweise auf die Auslastungszahlen oder die Umwegrentabilität. Bei schrumpfenden Zuschüssen wird es nicht mehr genügen, den interpretatorischen Schutt von gestern unter dem Begriff »Repertoire« zu sammeln, zu lagern und allenfalls neu zu arrangieren. Es wird um das Wagnis des Neuen gehen, und zwar in geschützten Räumen, in denen nicht nur das Träumen, sondern auch das Scheitern möglich sein muss.

Es gibt diese Werkstätten, und ihre Zahl wächst stetig. Sie finden sich allerdings nicht in den großen und berühmten Häusern, deren Ton- und Bildkonserven, marktgerecht aufbereitet, zumeist nur vorgeben, künstlerische Standards zu setzen. Das wirklich interessante Operngeschehen findet seit langem nicht mehr in Mailand oder Paris, in New York oder Wien statt, sondern in den Häusern der zweiten Kategorie, in Brüssel oder Basel, in Stuttgart oder Antwerpen, in Amsterdam oder Oslo, in Lyon oder Zürich, in Frankfurt oder Graz. Wo Traditionen, vermeintliche wie echte, keine so belastende Rolle spielen, haben sich neue musiktheatralische Foren gebildet, und diese Entwicklung wirkt längst hinaus über die deutschsprachige Mitte Europas. Sie gibt Hoffnung, dass die Oper nicht nur eine vierhundertjährige Vergangenheit hat, sondern auch Zukunft.

Wie zuversichtlich das auch klingen mag, die Realität vieler Opernalltage ist ernüchternd. Nicht selten scheinen sich zwei unversöhnliche Lager gegenüberzustehen. Hier wird ein neuer ästhetischer und intellektueller Anspruch des Musiktheaters formuliert, dort steht eine nicht nur schweigende, sondern ebenso heftig wie häufig auch opponierende Mehrheit, deren Begriff des Werkgetreuen sich in einer Art szenischen Konzerts in Kostüm und Maske zu erfüllen scheint. Ist dieser immer beliebtere Fluchtort namens »Konzertante Oper« nicht der eigentliche Verrat am »Werk«? Die Oper ohne Bühne kann niemals Oper sein, weil sie ausschließt, dass die Werkvorlage jemals zum Werk wird. Der Begriff ist ein Widerspruch in sich, und er führt uns weitab von jenem musiktheatralischen Ideal des Gesamtkunstwerks, das Richard Wagner vorschwebte.

Dieser Band ist eine Bestandsaufnahme. Vorangegangen ist ihm, nach Jahren der kritischen Beobachtung, die persönliche Erfahrung im Opernhaus Graz, das in den Jahren von 1990 bis 2001 als eine der genannten Werkstätten gelten durfte. Einige der führenden Persönlichkeiten haben das Haus und seine Arbeitsatmosphäre zu schätzen gewusst. Ihnen sei diese Sammlung in erster Linie gewidmet, als ein akademischer und theoretischer Kontrapunkt zu ihrer theatralischen Praxis.

Grundlage der Edition ist eine Reihe von Vorträgen, die im Rahmen eines kleinen, hochkarätig besetzten Symposions im März 2010 gehalten und zur Diskussion gestellt worden sind. Zu Wort gekommen sind profilierte, auch kontroversielle Stimmen aus vielen Lagern, vornehmlich aus der Musik- und Theaterwissenschaft, aber auch aus der Theaterpraxis, der journalistischen Öffentlichkeit und der Jurisprudenz. Im Zentrum stehen dabei die Künstler, auch jene jungen und wilden, die unseren heutigen Werkbegriff schon morgen wieder gestrig nennen mögen, weil sie die Summe der Werkgrundlagen als eine Art Steinbruch ansehen, worin sich das Material für ihre Arbeit findet. Es ist ein buntes Mosaik, das sich aus diesen Vorträgen zusammensetzt, aber das Mosaik hat seine Zeichnung.

Das Symposion war Teil eines Lehrgangs der Universität Zürich. Im Jahre 2004 als »Executive Master in Arts Administration« (EMAA) eingeführt, setzte er sich zum Ziel, künftige Führungskräfte künstlerischer Institutionen aus- und weiterzubilden. Im Zentrum stand dabei nicht die Vermittlung jener Fertigkeiten, die für den Manager Selbstverständlichkeit zu sein haben, sondern die Fragen der Verantwortung, der Führung und der Ethik. Den Absolventen der ersten fünf Lehrgänge, deren eigene Kompetenz sich in zwei Beiträgen widerspiegelt, gilt die zweite Zueignung.

Gemeinsam ist allen diesen Texten die Absicht, mehr Sachlichkeit in einen Diskurs zu bringen, der allzu häufig beherrscht wird von denen, die am lautesten schreien, also den vermeintlich »Eingeweihten« oder »Wissenden«. »Werktreue«, der Begriff ist zu schön, als dass er den Ewiggestrigen als argumentative Keule überlassen werden dürfte. Der Titel des Buches ist identisch mit der Fragestellung des Symposions: Was ist Werk, was Treue? Er will als eine Aufforderung verstanden sein, einen missverständlichen und fast immer missbrauchten Begriff genauer zu lesen.

© 2011/2014 Gerhard Brunner