Credo

Den heute schon «klassischen» Begriff von Musiktheater, für viele Opernfans bis heute ein Reizwort, verdanke ich Walter Felsenstein, und ich stehe zu diesem Begriff, wie unzeitgemäß, wie altmodisch, wie gestrig ein Bekenntnis dieser Art im Zeitalter der Postmoderne auch anmuten mag. Wozu ich mich bekenne? Ich zitiere Walter Felsenstein:
«Immer wieder entscheidet der Anspruch der Musik. Das wirklich musikalische Theatererlebnis kann vom Regisseur nur angeregt werden. Getragen wird es ausschließlich vom musizierenden und darstellenden Menschen. Wenn ich Regie führe, musiziere ich mit meinen Sängern … Das Musizieren und Singen auf der Bühne zu einer glaubwürdigen, überzeugenden, wahrhaften und unentbehrlichen menschlichen Äußerung zu machen – das ist die Kardinalaufgabe.»

Das Zitat stellt unmissverständlich klar, dass Regietheater nicht Musiktheater ist, Regie im Musiktheater also keinesfalls Selbstzweck zu sein hat.

Zurück zu sehr Persönlichem. In meinen Formationsjahren war der geborene Wiener Felsenstein eine Art geistiger Gegenpol zu einer antiintellektuellen, antiaufklärerischen, rein klangsinnlichen Opernwelt, die im Wien der Ära Karajan beheimatet gewesen – und bis heute geblieben ist. Wer analysiert oder kritisch Fragen stellt, macht sich verdächtig. Am Anfang steht nicht das – musikalische – Wort, sondern die Anekdote, das Gerücht, der Klatsch.
Kein Zweifel, Karajan war ein phänomenal begabter Musiker. Aber sein Name ist zugleich ein Synonym für die Haltung, Probleme nicht zu benennen, sondern zu verkleistern, wohl auch zu leugnen. Was nicht immer so gewesen zu sein scheint. Der junge Karajan warb buchstäblich um Felsenstein. Im Jahr 1941 kam es – wie gern wäre man stiller Zeuge gewesen – zu einer legendären Partnerschaft in Aachen. Neun Wochen lang probte man gemeinsam Verdis «Falstaff» – und sollte sich im künstlerischen Leben nicht wiedersehen, getrennt nicht bloß durch die Berliner Mauer. Wie beispielhaft für das musikalische Theater hätte die Wiener Oper um 1960 sein können und wie spannend zugleich die Salzburger Festspiele, die – nicht zuletzt durch Karajans Anmaßung, als Regisseur zu dilettieren – jahrzehntelang verkommen sind zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten.
Karajan und Felsenstein, verstehen Sie, bitte, die Namen stellvertretend, für Ebert und Busch, Rennert und Böhm, Berghaus und Gielen: Mein Idealbild von einem Musiktheater, in dem es ein Gleichgewicht geben muss zwischen Dichtung und Musik, Bild und Klang, Mensch und Raum, will auf keinen der beiden verzichten.

Das Gleichgewicht der ästhetischen Maxime und Utopie? Der Absturz in die Realität unseres Opernalltags könnte ernüchternder kaum sein. Wir stehen vor einer tiefen Kluft. Zwei feindliche Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber. Hier wird, von einer Minderheit, der Ansatz und Anspruch des Musiktheaters formuliert, in den Feuilletons zumeist auch beredt verteidigt, dort steht, voll von Misstrauen, nicht selten auch Verachtung und Häme, eine schweigende Mehrheit, der es Opernbeglückung genug ist, ihren Idolen – stehen sie nun am Pult oder auf der Bühne – zuzujubeln, beim szenischen Konzert in Kostüm und Maske.

Ich halte diesen Gegensatz für verhängnisvoll. Die Wurzeln sind freilich klar. Es geht im Musikgeschäft zumeist nicht um künstlerische Auseinandersetzung mit dem Werk, sondern um Business, um Marktanteile. Der Markt bestimmt, wer, was, wann und wo in welcher Partnerschaft zu tun hat und was nicht. Stücke sind Vehikel, Proben Zeitverschwendung, denn Zeit ist Geld. Wer Fragen stellt nach der Methode oder gar Inhalten, stört diesen Kreislauf. Neun Wochen für «Falstaff»? Der Star erscheint, und das missmutig, zur Einweisung in die Hauptprobe.
Produzent und Konsument, Direktionsetage und Stehplatz bilden eine höchst unheilige Allianz der Kenner und der Eingeweihten, der Wissenden um eine künstlerische Welt, deren Selbstverständnis ebenso wenig in Frage steht wie der Börsenkurs oder das Sportresultat vom Tage. Was sollte diesen «Kennern» der intellektuelle Ansatz Felsensteins, wenn er sagt:
«Jedes Werk, das wir aufführen, wird in den Zustand völliger Unbekanntheit zurückversetzt.»

Ein Blick zeigt, dass das künstlerische Elend und die Verrottung dort am schlimmsten sind, wo sich das alles unter den Stichworten «Tradition» oder «Werktreue» verkaufen lässt. In keinem der großen Opernhäuser der Welt gibt es ernsthaftere Ansätze in Richtung des Musiktheaters. Natürlich verirrt sich hin und wieder, weil hoch bezahlt, auch ein bedeutender Regisseur in diese Anstalten, aber es sind keine neuen Ansätze, die man sucht, sondern neue Etiketten. Große Namen, bekannt aus Film und Fernsehen, vorzugsweise auch Bildende Künstler, denen die Oper nichts, aber auch gar nichts weiter bedeutet als den nächsten PR-Coup, passen zu anderen großen Namen, die bereits auf den Besetzungszetteln stehen. Dramaturgie: Adabei.
Die Reform kommt, aber sie kommt nicht aus den Zentren, sondern von den Rändern her. Wo Traditionen, echte oder vermeintliche, keine hemmende Rolle spielen, haben sich vorerst Inseln gebildet.

Welcher Art sind nun aber die Probleme und die Gefährdungen für das Musiktheater heute?
Es ist, zunächst einmal, bedroht durch die fast ausschließliche Reproduktion stets derselben Texte, also durch eine Tendenz zur Vollendung im Musealen. Eine Weiterentwicklung seiner Prinzipien ist für mich nur denkbar in einem Wechselspiel mit der schöpferischen Produktion. Immer bedrückender wirkt die Last der Geschichte, also die Summe einer knapp vierhundertjährigen Produktion, immer blasser und dünner zugleich das Heute. Welche Oper war die vorläufig jüngste, von der sich bereits mit Bestimmtheit sagen ließe, sie wäre dem Regisseur auf Dauer zugewachsen? Bergs «Lulu», Strauss‘ «Capriccio» oder Puccinis «Turandot»? Brittens «Peter Grimes»? Welcher Titel es auch immer sein mag: Es ist kein Werk aus der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Die Gründe dafür sind komplex, und einige erscheinen identisch mit früher Gesagtem: Dass die Sänger und Dirigenten, die Träger der Form, sich nicht länger mit dem Neuen zu identifizieren suchen, weil der Markt es nicht annimmt.

Musiktheater heute, begriffen als Gesamtkunstwerk: Das gemeinsame Ganze gerät aus der Balance, wo immer sich Teile zu wichtig machen oder gar verselbstständigen. Nur im Miteinander, im Einverständnis, im kontrapunktischen Widerspiel der Teile wird es zur Realität. Erleben wir sie nicht tagtäglich, die Maßlosigkeit wildgewordener Bühnenbildner, die immer häufiger und unbegründeter selbst inszenieren, die Arroganz der Dramaturgen, die sich kaum noch damit beschäftigen, Inhalte zu vermitteln, sondern Kommentare und Fußnoten zu Fußnoten, die Selbstherrlichkeit aufgeblasener Pultvirtuosen, die nicht an die Bühne denken, sondern an die – möglicherweise vorweg – erzeugte CD, aber auch, nicht zuletzt, die Eitelkeit der Intendanten, im Kampf um den begrenzten Platz in den Feuilletons? Wir müssen auffallen, und fast jede Absurdität kommt in diesem Kampf gerade recht.

Vielleicht kommt die andere, die ökonomische Krise gerade im rechten Augenblick. Vielleicht bringt sie uns alle zur Besinnung, zur Konzentration auf das Wesentliche und das Gemeinsame. Wer, Hand aufs Herz, kooperiert denn ehrlich, solange man in volle Töpfe greift, wer hat sie nicht im Ohr, die dummdreisten Stehsätze selbstgefälliger Direktoren, die jeden, aber auch jeden Aufwand durch die Behauptung rechtfertigen, die Oper werde gleichsam reich durch Verschwendung. Mich wundern sie nicht, die täglichen, theatralisch beklagten Meldungen über Budgetkürzungen oder gar Schließungen von Bühnen.

Welcher Art sind nun die künstlerischen Rezepte, die wir dagegensetzen könnten? Ich glaube an die innovative Kraft der zeitgenössischen Komponisten. Binden wir sie ein in eine Theaterarbeit, die das Auftragswerk, aber auch das Nachspielen neuer Werke, zur Selbstverständlichkeit macht.

Ich glaube zugleich, dass wir gedrängt sind, nicht nur die Theatralisierung der Oper weiter voranzutreiben, sondern auch neue Konzepte der Präsentation und des Marketing zu entwickeln. Ich glaube an die Vielseitigkeit eines Repertoires, worin sich die großen Meisterwerke neben dem zu Unrecht Vergessenen finden. Ich glaube, je nach dem Standort, an einen neuen Begriff eines mobileren, an die jeweiligen Gegebenheiten angepassten Solistenensembles. Ich glaube an die Notwendigkeit, das Publikum zu verführen, ihm das Musiktheater als Medium verständlicher zu machen. Ich glaube an die Notwendigkeit, uneitler zu sein – zu dienen. Ich glaube an die Gattung Musiktheater als eine Kunstform unserer Zeit, worin – ich zitiere noch einmal den Stilbildner Felsenstein – «alles Sichtbare ebenso Musik wie alles Hörbare Handlung wird».

An uns liegt es, vierhundert Jahre Geschichte zu gelebter Geschichte zu machen: durch das Aufspüren von Zusammenhängen, durch die Genauigkeit der Fragestellungen. Niemals werden wir alle Antworten finden, und die heute vermeintlich gültigen sind morgen überholt. Darin ist Leben, ist Spannung, ist Zukunft.